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Auf den Spuren großer Tatzen

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Ein Schneeleopardentrekking in Ladakh gewährt Einblicke in das Leben der Großkatzen und klärt auf über ihre Zukunft.

Besonders viel wusste ich nicht über Schneeleoparden. Wie sie aussehen, wo sie leben und dass es nicht mehr viele gibt. Drei sehr verspielte Jungtiere im Krefelder Zoo haben meine Neugier vor einigen Jahren geweckt. Wie lebt und überlebt das Raubtier in in den eisigen Höhen des Himalayas? Warum ist es gefährdet? Wie steht es um seine Zukunft? Ein paar Reportagen und Dokumentationen später habe ich vom Schneeleopardentrekking gehört. In den Lebensraum der Großkatze reisen? Na klar!

Schneebedeckte Gipfel zum Greifen nah und so weit das Auge reicht. Die Stille in den Bergen schluckt das Dröhnen der Boeing, die mich von Delhi nach Ladakh bringt. Von einer hektischen 20-Millionen-Metropole in eine Region mit unberührter Natur. Von angenehmen 20 Grad ins winterlich kalte Leh, Ladakhs Hauptstadt. Dort empfängt mich Konchok. Er führt seit zehn Jahren – damals noch als Student der Geopolitik – Touristen durch die umliegende Bergwelt: mehrtägige Wanderungen und Gipfelbesteigungen im Sommer, Schneeleopardentrekking im Winter. Genau deswegen bin ich hier. Wenn viel Schnee liegt, verlässt die scheue Großkatze ihren bis zu 6.000 Meter hohen Lebensraum. Sie folgt ihrer Beute in niedrigere Höhenlagen. Das macht es für Besucher einfacher, den Geist der Berge, wie der Schneeleopard im Himalaya auch genannt wird, zu beobachten.  „Wir hatten letzte Woche Neuschnee. Das ist gut für uns“, blickt Konchok optimistisch auf die bevorstehende Tour.

Ladakh: Berge so weit das Auge reicht.

Wild Life Study Camp auf 4.000 Meter Höhe

Mit 3.500 Metern über dem Meeresspiegel gehört Leh zu den höchstgelegenen Städten der Welt. In der Höhenluft empfiehlt es sich, die ersten zwei Tage ruhig anzugehen. Nach einer Nacht mit leichten Kopfschmerzen soll eine leichte Wanderung zum Palast bei der Akklimatisierung helfen. Das Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert liegt hoch über der Stadt – meiner Lunge nach zu urteilen noch höher. Am dritten Tag brechen wir zum 4.000 Meter hoch gelegenen Wild Life Study Camp auf, unsere Basis für die Suche nach Schneeleoparden. Der Aufstieg führt über eine nicht allzu steile, aber umso längere Schotterpiste. Für Konchok ist es ein Spaziergang von vielen. Er nimmt sich immer wieder Zeit, sein Spektiv auf die steilen Wände zu richten: „Tagsüber schlafen sie meistens in der Sonne auf den warmen Felsen.“ Typisch Katze. An diesem Nachmittag sind die Berghänge jedoch leer. Schneeleoparden durchstreifen ein Gebiet mit einem Radius von etwa 50 Kilometern. Es gehört eine große Portion Glück dazu, sie aufzuspüren. Außerdem erschwert ihre perfekte Tarnung eine Sichtung sowohl in den Felsen als auch im Schnee. Das weiß-gräuliche Fell mit den dunklen Punkten und Kreisen fügt sich perfekt in die Texturen der kargen oder verschneiten Bergwelt ein.

Konchok leitet rund um Leh Wandertouren und Schneeleopardentrekkings.

Im Camp warten bereits Rigzin und Gyadso, die das Hauptgepäck zuvor mit Eseln und Maultieren hinaufgebracht hatten. Sie werden auch für das leibliches Wohl sorgen. Ein Giebelzelt aus dunkelgrüner Baumwolle dient als Speisesaal, ein weiteres ist gleichzeitig Küche und Schlafzimmer für unsere Gastgeber. Ich richte mich in einem eigenen kleinen Geodäten häuslich ein. Die nächtlichen Außentemperaturen sinken hier oben bis auf minus 20 Grad Celsius. Ich vertraue auf die Kombination zweier Daunenschlafsäcke. Konchok ist schon wieder auf dem Sprung: „Wir suchen noch nach Schneeleoparden, so lange es hell ist.“ Ich schließe mich ihm an. An einem Spot in der Nähe richten einige andere Gruppen aus diesem und einem benachbarten Camp ihre Spektive oder Teleobjektive auf die weit entfernten Berge. Menschen, die auf Berge starren. Relativ leicht zu erkennen sind einige Spuren im Schnee, aber die könnten für den Laien von jedem Tier stammen. Konchok kennt die Unterschiede und richtet meinen Blick auf einen grauen Fleck, der langsam, aber kontinuierlich den schneebedeckten Hang erklimmt. Der erste Schneeleopard der Tour. Das Erlebnis fesselt mich und steigert die Vorfreude auf die kommenden Tage.

Mit dem Spektiv hält Konchok permanent Ausschau nach Schneeleoparden.

Nach einer weiteren Sichtung am zweiten Tag können wir auch am dritten Tag einen Schneeleoparden beobachten. Trotz der großen Entfernung erkenne ich durch das Spektiv die typischen Merkmale, die diese Raubkatze so besonders machen: Großen Tatzen fungieren als Schneeschuhe und geben perfekten Halt auf den tückischen, steilen Felsen. Lange, kräftige Hinterbeine erlauben dem Jäger weite Sprünge von über zehn Metern. Der imposante Schwanz – er misst rund einen Meter und wärmt die Pfoten im Schlaf – dient als Balancehilfe. Unser Schneeleopard demonstriert es mit einem eleganten Sprung von Fels zu Fels. Die Evolution hat den Schneeleoparden für die Jagd im Gebirge optimiert. Als Top Predator dominiert er im Himalaya die Nahrungskette. Seine Beute besteht hauptsächlich aus Huftieren wie dem Blauschaf, aber auch kleine Säuger und Vögel stehen auf dem Speiseplan. Trotz der zahlreichen Blauschafe auf den Berghängen bleiben uns Jagdszenen verwehrt. An den weiteren tagen zeigt sich der Schneeleopard nach drei beeindruckenden Sichtungen nicht mehr. Natürlich hat Ladakh noch viel mehr zu bieten: Wir beobachten Bartgeier und Steinadler, Schneehasen und einen Luchs. Allgegenwärtig sind außerdem das männliche Dzo und das weibliche Dzomo. Die hiesigen Nutztiere sind eine Kreuzung aus Yak und Hausrind. „Widerstandsfähig wie ein Yak und friedlich wie eine Kuh“, erklärt Konchok.

Dzos sind eine Kreuzung aus Yaks und Hausrindern.

Mit dem Geist der Berge leben

Im Vorfeld der Reise bin ich auf einen Forscher gestoßen, der seine Leidenschaft für den Geist der Berge – nun weiß ich, dass der Name mehr als berechtigt ist – zur Berufung gemacht hat. Bereits Anfang der 80er Jahre hat Dr. Rodney Jackson die Wanderung von Schneeleoparden über vier Jahre hinweg mit Hilfe von GPS-Sendern verfolgt. Seither lässt ihn das Tier nicht mehr los. 2000 gründete er die Snow Leopard Conservancy. Die gemeinnützige Organisation arbeitet eng zusammen mit Kommunen innerhalb des Verbreitungsgebiets der Schneeleoparden, unter anderem in Pakistan, Nepal, Russland und Indien. Der Snow Leopard Conservancy India Trust wurde als Teil der Snow Leopard Conservancy gegründet und ist seit 2003 eine eigenständige Non-Profit-Organisation, die heute den Großteil der Projekte in Ladakh durchführt.

Blauschafe gehören zu den Beutetieren des Schneeleoparden.

Der Schutz des Schneeleoparden ist nötig, weil er als Jäger zum Gleichgewicht der Fauna beiträgt. Nach wie vor ist er Opfer von Wilderern. Der Handel mit dem Fell oder den Knochen – sie werden in der traditionellen chinesischen Medizin verwendet – ist seit den 70er Jahren verboten. Der Schwarzmarkt besteht bis heute. Ein weiteres Problem, wie Dr. Rodney Jackson erklärt, seien Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung: „Gerade in hoch gelegenen Dörfern ist der Schneeleopard eine Gefahr für die Nutztiere.“ Dies sei für die dort lebenden Menschen existenzbedrohend. Tsewang Namgail, Direktor des Snow Leopard Conservancy India Trust, ergänzt: „Der Buddhismus verbietet es uns, Tiere zu töten. Aber wenn das Raubtier die Lebensgrundlage bedroht, haben viele keine Wahl.“ Umso wichtiger sei es, das Tier zu verstehen, um dann mit geeigneten Maßnahmen zu reagieren. Die beiden Organisationen arbeiten Hand in Hand an nachhaltigen Lösungen, die den Lebensraum der Tiere bewahren und Tötungen reduzieren. Die wichtigsten Säulen dieser Arbeit sind Forschung, Bildung und Tourismus.

„Die Sicherung der meist offenen Stallungen ist ein effektiver Weg, Nutztiere zu schützen“, so Dr. Rodney Jackson. Aber in den meisten Dörfern fehle das Geld für die Bedachung, so dass das Vieh praktisch zusammengepfercht auf einem Präsentierteller stehe. Mit Spenden konnte die Snow Leopard Conservancy bereits zahlreiche Dächer und Zäune errichten, doch die Maßnahme ist mit über 1000 Dollar pro Stall auf lange Sicht zu kostspielig. Deshalb konzentriert man sich auf günstigere Lösungen wie sogenannte Fox Lights. Die solarbetriebenen Warnlampen registrieren den Angreifer über Bewegungssensoren und verschrecken ihn mit Lichtblitzen. Solche Systeme habe man bereits in Afrika bei der Jagd auf Wilderer eingesetzt, ergänzt Dr. Rodney Jackson: „Die modernen Systeme können sogar automatisch Benachrichtigungen an ein Smartphone senden.“

Meistens sind Schneeleoparden nur mit Spektiven gut zu beobachten.

Perspektiven für die lokale Bevölkerung

Bei allen Bemühungen, das Konfliktpotenzial zwischen Mensch und Tier zu verringern, sieht Dr. Rodney Jackson die größte Chance in der Aufklärung: „Wir gehen in die Dörfer und reden mit Einheimischen über den Wert des Schneeleoparden für die Region.“ Die Überzeugungsarbeit mache sich bezahlt. „Durch die Wissensvermittlung begeistern wir insbesondere Kinder und Jugendliche für das Thema.“ So würden immer neue Kooperationen entstehen. „Manche installieren Wildkameras“, gibt Tsewang Namgail einen Einblick in die Arbeit von ihm und seinem Team. Kamerafallen seien heute ein wichtiges Werkzeug, um den Lebensraum des Schneeleoparden zu beobachten. „Die Erkenntnisse fließen in Forschungsarbeiten ein und natürlich in die Aufklärung der Kommunen.“ Daraus entwickle man die Schutzkonzepte und Ideen für touristische Möglichkeiten. „Damit bieten wir den Einheimischen nicht nur eine Perspektive, wir begeistern sie regelrecht für das Tier, mit dem sie einen Lebensraum teilen.“

Auch in den entlegensten Ecken der Berge finden sich kleine Siedlungen mit Home Stays.

Eine dieser Perspektiven sind Home Stays – Unterkünfte in den Bergdörfern, direkt bei den Einheimischen. Diese Übernachtungsmöglichkeiten sind eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Für die Anbieter eine zusätzliche Einnahmequelle und für die Touristen ein kurzer Einblick in das lokale Leben. Nach neun Nächten im Zelt darf ich ein Zimmer im Haus von Frau Tashi beziehen. Seit mehreren Jahren beherbergt die 80-Jährige Gäste. Ein großer, von einem Holzofen gewärmter Gemeinschaftsraum ist das Herzstück des traditionellen Gebäudes. Hier verbringen wir einen geselligen Abend mit typischer lokaler Küche. Bei der Zubereitung der Chutagi, einer Pastasorte, darf ich helfen. Auf die Frage nach den Schneeleoparden, erzählt Frau Tashi, dass es im Rumbak Village noch nie Probleme gegeben habe.

Schutzmaßnahmen als kontinuierlicher Prozess

Die Arbeit der Snow Leopard Conservancy und des Snow Leopard Conservancy India Trust ist ein kontinuierlicher Prozess, von dem Natur und Bevölkerung schon jetzt profitieren. Der Tourismus gewinnt in Ladakh immer mehr an Bedeutung, da neue Trekkingrouten durch Home Stays erschlossen werden – auch außerhalb der Schneeleoparden-Saison. Deshalb blicken Dr. Rodney Jackson und Tsewang Namgail optimistisch in die Zukunft: „Wir haben eine gute Grundlage für die Umsetzung vieler weiterer erfolgreicher Projekte geschaffen.“

Die Rote Liste der Arten, die von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) veröffentlicht wird, stuft den Schneeleoparden als gefährdete Art ein. Unterschiedliche Szenarien schätzen einen Gesamtbestand zwischen 2.500 und 10.000 Exemplaren. Nach Angaben der IUCN sind diese Zahlen stabil oder nehmen in einigen Gebieten sogar leicht zu. Dies könne eine Folge der verstärkten Erhebungen in bisher nicht erfassten Gebieten sein, so die IUCN, aber auch die Bemühungen von Non-Profit-Organisationen wie der Snow Leopard Conservancy werden hervorgehoben: „Schutzmaßnahmen und Richtlinien haben zweifellos dazu beigetragen.“

Buddhistische Gebetsfahnen sind in Ladakh allgegenwärtig. Die Farben stehen für die Element Leere (blau), Luft (weiß), Feuer (rot), Wasser (grün) und Erde (gelb).

Auf dem Rückflug nach Delhi mit bester Sicht auf die Berge wird mir klar, was für ein einmaliges Erlebnis die Zeit im Himalaya war. Völlig anders und teilweise anstrengender als alle meine bisherigen Reisen, aber auch viel erkenntnisreicher. Die Stille in den Bergen bedeutete zwei Wochen Ruhe, kein Stress, Natur pur. Eine Realität, die den meisten Menschen heutzutage völlig fremd ist, weil sie dem Lärm der modernen Welt nicht entkommen. Eine Realität, die wir gerade deswegen auch dort suchen sollten, wo wir selbst leben.